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10. Juni 2025

Der "Locus separat(issim)us" 

oder: von der "Bekämpfung von Schmutz und Schund"


In Umberto Ecos „Der Name der Rose“ spielt eine Geheimkammer für besondere Bücher eine verdeckte Hauptrolle. Erst ganz am Ende wird das Rätsel um diese gelüftet. Besondere Orte für spezielle oder sogar verbotene Bücher beflügeln schon immer die Vorstellungskraft vieler Menschen. Alles nur Fantasie? Reden wir nicht lange ´drum herum: Natürlich nicht! Schon unsere historischen Bibliothekskataloge zeigen, dass es „libri prohibiti“ (verbotene Bücher) nicht nur bei Umberto Eco oder in Hogwarts, sondern natürlich auch in Franziskanerbibliotheken gab. Auch die Provinzbibliothek hat einen eigenen abgeschlossenen Raum. Dessen Bestände tragen das Signaturkürzel l.s.: locus separatus. Also auf Deutsch: der abgetrennte oder abgeschiedene Ort. Nur! Wenn so etwas im Katalog steht, kann es mit dem Geheimnis nicht allzu weit her sein. Denn hier stehen eben nicht völlig unbekannte oder verschollene Handschriften klassischer Autoren, die ein blinder Mönchs-Bibliothekar durch Mord und Totschlag beschützt. Aber es handelt sich um unsere wertvollen Altbestände und Rara, die man nicht jedem in die Hand drückt. Soweit, so wenig geheimnisvoll. Aber im locus separatus gibt es noch einen besonderen Ort: Von ihm und seinem Geheimnis handelt dieser Beitrag.

 

Es geht um einen abgeschlossenen Stahlschrank. Sozusagen ein locus im locus, ein locus separatissimus! 

Als wir die Bibliothek vor zwei Jahren übernommen haben, wussten wir um diesen Schrank. Wir hatten auch die Schlüssel und haben hin und wieder einmal ´reingeschaut. Auf die spannende Geschichte darin sind wir aber erst gestoßen, als wir dort für die Rettung unserer Bücher begonnen haben, systematisch aufzuräumen.

Es ging los mit dem Fund eines Zettels: „NS-Literatur, unsortiert“. Und in der Tat stapelten sich, gut verborgen hinter und unter allerlei Sammelsurium, über 100 Publikationen aus der dunkelsten Zeit Deutschlands. Eine kleine Titelauswahl gefällig? „Deutschland in Ketten. Von Versailles bis zum Youngplan“, „Ich kämpfe. Die Pflichten des Parteigenossen“, „Mann und Weib. Ihre Beziehungen zu einander und zum Kulturleben der Gegenwart“. So was gehört tatsächlich weggeschlossen! 

Aber Moment mal! Wenn das also nicht für jedermann gedacht war – wer hat es gelesen?

 

Ein vergessener, wichtiger Nutzer der Bibliothek mit einer besonderen Aufgabe. Der Name P. Erhard Schlund (1888-1953) sagt heute niemandem mehr etwas, zu seinen Lebzeiten ging allerdings der Witz um, dass dieser Franziskaner im Rahmen einer Moskaureise Josef Stalin in den Dritten Orden aufgenommen habe. P. Erhard war ein aus Niederbayern stammender, in München promovierter Theologe, der alle geistigen Strömungen seiner Gegenwart mit sehr wachem Geist wahrnahm. Der Titel seiner Promotion lautete: „Die philosophischen Probleme des Kommunismus“. Deshalb wohl auch der Stalin-Witz. Er las praktisch alles und kommentierte es. So kam es zum Beispiel auch dazu, dass er im Oktober 1923 im Rahmen einer Artikelserie das Thema „Der Münchener Nationalsozialismus und die Religion“ behandelte. Er stellte fest, dass eine Partei, die Hass predigt, unchristlich sei. Sein Beitrag datierte noch vor dem Hitler-Ludendorff-Putsch und fußte auf einer Lektüre des Parteiprogramms der NSDAP.

Offenbar gefiel P. Erhards wacher Blick erst dem Münchener und dann allen deutschen Bischöfen. Denn 1928 wurde er zum Vorsitzenden eines Gremiums, das sich mit der Sichtung und Bewertung der aktuellen kulturellen und politischen Bewegungen in Deutschland aus katholischer Perspektive befasste: das Consilium a vigilantia. Die Ergebnisse dieser Lektüre wurden den deutschen Bischöfen in über mehr als 1300 Rundschreiben mitgeteilt. Das Consilium hatte die „Bekämpfung von Schmutz und Schund“ (1) zum Zweck. Dabei kam der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus eine immer stärkere Bedeutung zu.

Wen wundert es, dass P. Erhard ab einem gewissen Zeitpunkt diverse Gestapo-Verhöre und Hausdurchsuchungen über sich hat ergehen lassen müssen? Verrückterweise kam aber die Gestapo nie dahinter, dass das eigentliche Büro des Consilium überhaupt nicht im Münchener Franziskanerkloster, sondern in der benachbarten Oettingenstraße lag. Das führte wohl dazu, dass die Gestapo zwar Schlunds Schreibmaschine und die Bücher aus seinen Räumen in St. Anna beschlagnahmte, nicht aber die Bücher aus seinem Büro. Dieses blieb auch verschont, als Kloster und Bibliothek am 3. Oktober 1943 nach einem Bombenangriff abbrannten. 

Im Jahr 1940 wurde dem Consilium a vigilantia vom NS-Regime verboten, die Bischöfe über diese Rundschreiben weiter zu informieren. Es wurde dann ein anderer Weg der Information gefunden, sodass sich ein Katz- und Mausspiel zwischen Gestapo und P. Erhard entwickelte, der nur knapp der Verhaftung und Verbringung ins Konzentrationslager entging. Ein schwerer Schlaganfall bereitete dann aber seiner Tätigkeit im Jahr 1943 vorerst ein Ende, ehe das Consilium dann im Jahr 1948 seine Tätigkeit offiziell einstellte.

Für die NS-Literatur in der Bibliothek gab es danach keine Verwendung mehr, sie war im Gegenteil ein schwieriges Erbe. So wurden die Bücher irgendwann in den Stahlschrank weggesperrt, und, so stand auf einem Vermerk, ausschließlich zu wissenschaftlichen Zwecken herausgegeben. Unser Stahlschrank war also ein „Giftschrank“! Wir haben diese Bücher mittlerweile herausgeholt, weil sie uns dort Platz wegnehmen. Sie haben jetzt im Fach „Apologetica“ einen anderen Platz in der Bibliothek. Dort stehen sie nicht nur als ein Stück Bibliotheksgeschichte in finsterer Zeit, sondern erinnern gleichzeitig an Erhard Schlund als einen bedeutenden intellektuellen Gegner des Nationalsozialismus.

 

Mal schauen, was wir beim nächsten Mal entdecken! Begleitet uns auf unserer Entdeckungsreise und lest unseren Blog!

(1)  Erhard Schlund, Die Tätigkeit des Consiliums a vigilantia, in: Verba vitae et salutis 23 (1953), S. 98-103, hier 98.

Weitere Literatur: 

  • Edelbert Kurz, Nachruf P. Erhard Schlund, in: Verba vitae et salutis 25 (1954), S. 83-86. 
  • Michael Fellner, Pater Erhard Schlund OFM (1888–1953) und seine Auseinandersetzung mit der völkischen Bewegung und dem Nationalsozialismus, in: GDS-Archiv für Hochschul- und Studentengeschichte 5 (2001), S. 65–125. 


15. Mai 2025

Von lost places und lost persons 

Schatzsuchen elektrisieren Groß und Klein! Versunkene Schiffe oder Städte, alte Gemäuer oder Ruinen umweht per se der Hauch des Geheimnisvollen. In der Gegenwart spricht man in diesem Zusammenhang bevorzugt von „Lost places“. Und natürlich gibt es das auch in München! Von einem besonderen „Lost place“ und ihrem berühmtesten franziskanischen Bewohner geht es in diesem Beitrag: Wilhelm von Ockham! Der macht sogar heute noch Schlagzeilen und: Wir bewahren einen Teil seines Erbes.

Mitte Februar geisterte plötzlich besagter Wilhelm Ockham aktuell durch die überregionale Presse. Und das, obwohl er schon rund 700 Jahre tot und begraben ist. Sein Grab hat dieser bis in die Gegenwart einflussreiche Philosoph nämlich in München gefunden. Aus den Quellen wissen wir, dass Ockham 1347 „in choro ante altare“, also im Chor der Klosterkirche der Franziskaner bestattet wurde, und zwar konkret ganz links vor dem Hauptaltar.. Aber die Kirche gibt es heute nicht mehr. Das gesamte Areal des alten Münchener Franziskanerklosters am Max-Joseph-Platz wurde 1803 abgerissen. Über der Stelle des ehemaligen Chors der Klosterkirche tummeln sich heute Musikliebhaber im Foyer der Bayerischen Staatsoper. Dieser wichtige Ort, an dem neben Ockham unter anderem auch Michael von Cesena († 1342, bis 1328 Generalminister, also Leiter des Gesamtordens) bestattet lag, ist also im wahrsten Sinne des Wortes ein „lost place“. 

Nur, wer war dieser Mann? Der aus England stammende Wilhelm Ockham war 1330 zusammen mit seinen Mitbrüdern Bonagratia von Bergamo († 1340) und besagtem Michael von Cesena im Gefolge Kaiser Ludwigs IV. „der Bayer“ als Flüchtling von Italien nach München gelangt (übrigens reiste noch ein Franziskaner mit: Im Gepäck des Kaisers befand sich die Oberarmreliquie des hl. Antonius von Padua, die er den Münchener Franziskanern zum Geschenk machte). Tatsächlich hatte sich der Gelehrte zuvor nicht nur mit den einflussreichen Denkern seiner Zeit, sondern im „Armutsstreit“ auch mit dem Papst höchstpersönlich angelegt. An der Seite des Kaisers machte das Münchener Franziskanerkloster in jenen Jahren Weltgeschichte! Aber die Geistesgeschichte hat Ockham dann nach seinem Tod im Jahr 1347 entweder verketzert oder bejubelt – das lag jeweils am Standpunkt des Betrachters: als einen Vorreiter von Reformation und Aufklärung. Zur Wahrheit gehört allerdings: Ockhams Denken ist alles andere als trivial. Was er schrieb, ist mitunter wirklich hochspekulativ und schwer verständlich. 

Jetzt wirbt eine Privatinitiative um den bekannten Philosophieprofessor Wilhelm Vossenkuhl für die Errichtung eines Denkmals, um an den gelehrten Franziskaner zu erinnern: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-ockham-max-joseph-platz-gedenken-li.3200119
 

Was hat das mit uns zu tun? Eine ganze Menge! Denn, wie wir schon im allerersten Blog geschrieben haben: Wir stehen in St. Anna ja in Kontinuität des alten Franziskanerklosters am Max-Joseph-Platz. In „unserer” Klosterkirche ruht nicht nur die erwähnte Antoniusreliquie, sondern „wir” haben auch Ockham. Zumindest einige frühe Ausgaben seiner Schriften. Wirklich alte Stücke! Zum Beispiel Inkunabeln aus dem Jahr 1494/95 oder eine Handschrift, die am Ende des 14. Jahrhunderts verfasst wurde. Von zahllosen jüngeren Studien und Ausgaben seiner Werke ganz zu schweigen. Deshalb haben wir uns Wilhelm Ockham gleichsam zum Aushängeschild und zur Visitenkarte unserer Bibliothek gemacht. 

 

Als Motiv haben wir das zeitgenössische handschriftliche Titelschild eines Sammelbandes aus unserer Bibliothek gewählt, der gleich zwei Ockham-Inkunabeln enthält: einmal den „Dialogus“, gedruckt 1494 in Lyon in der Werkstatt von Johann Trechsel; und zum anderen das „Opus nonaginta dierum“ mitsamt Michael von Cesenas „Epistola ad Ludovicum Bavarum Imperatorem“, gedruckt 1495 ebenfalls in Lyon bei Johann Trechsel. Diese Werke waren am Ende des 15. Jahrhunderts echte „Bestseller“! Das ist daran zu erkennen, dass  allein die genannte Druckausgabe des „Dialogus“ heute noch in 152 Bibliotheken weltweit und dort oft in mehreren Exemplaren nachgewiesen ist. Geschrieben wurden alle genannten Werke im Münchener Franziskanerkloster. Ockham begann den ersten Teil des „Dialogus“ 1332. Unter diesem Titel schrieb er mehrere Traktate in Dialogform nieder, die sich mit den brennenden kirchenpolitischen Fragen der Zeit, vor allem mit den Häresien Papst Johannes‘ XXII. beschäftigen. Auch im „Opus nonaginta dierum“, seiner ersten politischen Streitschrift, noch vor dem „Dialogus“ verfasst, wettert er in Verteidigung Michaels von Cesena gegen den Papst. Noch Jahrhunderte später wurde ihm eine „hitzige Feder“ attestiert (München, BSB, Cgm 3248, p. 192). 
Wie ernst das noch heute genommen wird, zeigt ein Beispiel aus dem Jahr 2019. Der bekannte deutsche Philosoph Jürgen Habermas schreibt: „Wilhelm von Ockham gehört zusammen mit Marsilius von Padua und Dante Alighieri zu den ersten öffentlichen Intellektuellen, die sich damals als ein neuer Sozialtypus herausbilden.” (1)  Man kann mit Habermas über Ockhams Positionen zum Minderheits- oder Mehrheitsprinzip bei Abstimmungen staunen und fasziniert sein von seinen Gedanken zu einer kategorischen Ablehnung der Legitimität von despotischer Herrschaft. Das ist inhaltlich hochaktuell!


Über die die Rezeptionsgeschichte der genannten Inkunabeln und zur Besitzgeschichte des Sammelbandes erzählen wir sicherlich ein anderes Mal weiter. Heute geht es uns aber um etwas anderes: eine weitere Antwort auf die Frage „Warum beschäftigt Ihr Euch eigentlich mit diesen alten Büchern?”

Ist doch klar! Ockham ist uns Aushängeschild und Visitenkarte, weil schnell deutlich wird, wie relativ das ist: eben noch verloren gegangen und vergessen – jetzt aber auf einmal öffentlich und brandaktuell. Und natürlich beeindruckt auch heute noch das Zeugnis eines Menschen, der sich getraut hat, selbst zu denken, und der für seine Gedanken auch persönlich eingestanden ist.


Lost places und lost persons können wiedergefunden werden!

Aber immer gilt die Faustregel: „Der wichtigste historische Überlieferungsträger des abendländischen Wissens ist das Buch.” (2) Und nur, was überhaupt überliefert wurde, kann wiederentdeckt werden.

In dieser Hinsicht ist unserer Bibliothek eine echte Schatztruhe alter Überlieferungen! Wenn Ihr Lust habt, weiter mit uns darin zu kramen, verfolgt unseren Blog!

(1) Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie. 2 Bde, Berlin: Suhrkamp, 2019, hier Bd. 1, S. 829.

(2)  Armin Schlechter: Texträger, archäologisches Objekt und Mosaikstein. Was bleibt vom alten Buch? in: Das Ende der Bibliothek? Vom Wert des Analogen, hrsg. von Uwe Jochum /Armin Schlechter, Frankfurt a. Main 2011 (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliografie; Sonderband 105), S. 101-114, hier: 101).

 

11. April 2025

ProvBi meets Uni

Wie künftige Kodikologen ausgebildet werden 

Wer ihn schon mal erlebt hat, weiß wovon die Rede ist: den ehrfürchtigen Schauer, der den Rücken herunter rieselt, wenn man ein wirklich altes Dokument vor sich hat! Egal, ob Handschrift oder Druck. Dieser Kitzel bleibt ein Leben lang. Wer das noch nicht kennt: Achtung! Das hat hohes Suchtpotential! Auf einmal beginnt man zu ahnen: Diese alten Schätze sind wie Zeitmaschinen, die uns direkt in die Vergangenheit katapultieren, und es sind besonders spannende Momente, in einem Archiv oder einer Bibliothek für Altbestand etwas Neues, Unbekanntes zu entdecken. 

Allerdings reicht Gefühl alleine zum Lesen alter Texte dann doch nicht! So folgt für den Laien angesichts einer alten Schriftquelle zumeist ein sehr ernüchternder Moment: Was steht da eigentlich überhaupt? Wie soll ich das bloß entziffern? Und wie komme ich an das heran, was mir das Buch neben seinem Inhalt erzählen kann (Ihr erinnert euch an den Januar-Blog!)? Textzeugen früherer Epochen wie beispielsweise aus dem Mittelalter sind eben in Form von Handschriften oder Urkunden, meistens auf Latein und in einer für den Laien unleserlichen Schrift überliefert.

Genau hier muss mit einem Irrglauben aufgeräumt werden: Es steht heutzutage eben nicht alles im Internet und nicht jeder Text ist schon in leicht lesbarer Form gedruckt worden. Bis in die Gegenwart werden außerdem immer noch unbekannte, alte Manuskripte entdeckt. KI-unterstützte Software zur Schrifterkennung entwickelt sich zwar weiter, letztlich ist man aber auf sich selbst gestellt. Wer also alte Handschriften nicht nur bestaunen, sondern sich wissenschaftlich mit ihnen beschäftigen will, braucht ein ganzes Bündel fundierter Fachkenntnisse zu deren Entschlüsselung. Allzu wenige Universitäten in Deutschland haben noch eigene Lehrstühle, die diese Historischen Grundwissenschaften lehren. Sehr schade!
 

Was hat das alles mit uns zu tun? Nun, wir haben halt mittelalterliche Handschriften. Diese Schätze wollen wir aber nicht nur bewahren, sondern nach Möglichkeit zugänglich machen. Außerdem möchten wir als Bibliothek unseren Beitrag leisten, dass wissenschaftlicher Nachwuchs für die Grundlagenforschung ausgebildet wird. Irgendjemand muss all das Unentdeckte in den Bibliotheken (auch unserer!) und Archiven ja ans Licht holen und erschließen! 

Das trifft sich nun gut. Zunächst einmal gibt es wie gesagt fast keine Lehrstühle mehr, wo man das Handwerkszeug für den Umgang mit den alten Texten lernen kann. Aber in München gibt es einen: die Professur für Historische Grundwissenschaften am Historischen Seminar der LMU. Und eine Herausforderung bleibt für die Lehrenden überall: Es ist sehr schwierig, Lehrveranstaltungen an und mit historischen Beständen anbieten zu können. Hier helfen wir gerne aus! 

Also haben wir uns sehr gefreut, als im vergangenen Sommersemester Prof. Dr. Martin Wagendorfer, Inhaber der Professur für Historische Grundwissenschaften, mit einer Lehrveranstaltung bei uns zu Gast war: Anhand unserer Originale sollten seine Studierenden in die Grundlagen der Handschriftenkunde (Kodikologie) eingeführt werden. Nicht nur über den Inhalt einer Handschrift Auskunft geben zu können, sondern auch fundierte Aussagen zu deren Entstehungszeit und -ort sowie Besitzgeschichte zu treffen: Das braucht spezifische Kenntnisse, Erfahrung und Übung. 

Am 14. Juni 2024 kamen die sieben Studierenden und ihr Professor zum ersten Mal in die Provinzbibliothek. Gut vorbereitet, sehr interessiert! Im Vorfeld hatten sie schon verschiedene Aspekte der Kodikologie kennengelernt und wussten also bereits, dass eine mittelalterliche Handschrift nicht bloß Überlieferungsträger von Texten ist, sondern in sich selbst ein komplexes historisches Objekt darstellt. Grund genug, zunächst überhaupt „Berührungsängste“ – im wahrsten Sinne des Wortes – im Umgang mit Originalen abzubauen. 

Ehe man sich nun dem Inhalt einer Handschrift widmet, gilt es zunächst, sich mit ihrer Materialität zu befassen: Wie groß ist die Handschrift, wie viele Blätter hat sie? Ist der Beschreibstoff Papier oder Pergament? Wie ist die Handschrift strukturell aufgebaut? Ist sie aus mehreren unabhängigen kodikologischen Teilen (Faszikeln) zusammengesetzt? 

Konzentriert gingen die Studierenden daran, diese Basisangaben „ihrer“ Handschrift zu dokumentieren und deren Aufbau, die Lagen, zu bestimmen und in der im deutschsprachigen Raum gebräuchlichen Formel aufzuschreiben. 

Worauf daneben nicht alles zu achten ist! Sei es die Anordnung von Pergamentblättern (Haarseite/Fleischseite), Custoden und Wortreklamanten, die Gestaltung des Schriftspiegels, die Anzahl der Schreiberhände oder die Schrift selbst: Die Studierenden lernten, dass jedes vielleicht noch so unwichtig erscheinende Detail an einer Handschrift Hinweise zu ihrer Entstehung, Verwendung oder Überlieferung geben kann und deshalb nach bestimmten Richtlinien dokumentiert werden muss. Bewusst wurden fortgeschrittene Lehrinhalte wie die Bestimmung von Wasserzeichen bei Papierhandschriften, die Beschreibung von Einbänden, Einbandmakulaturen, Provenienzmerkmale, Schreibervermerke oder die Unterscheidung von Schreiberhänden und Schriftdatierung noch ausgespart. Kodikologie ist eben keine Sache nur einer Lehrveranstaltung, zumal es ja auch gilt, den Inhalt einer Handschrift genau so gründlich zu untersuchen. Hier kommen dann paläographische und philologische Kenntnisse zum Tragen: Welchen Text habe ich vor mir? Ist er noch öfter überliefert und gibt es davon Drucke oder kritische Editionen? Wenn ja, weicht mein Textzeuge auffällig ab, ist er bearbeitet oder kommentiert? Wo finde ich Literatur zu diesem Text? 

Anscheinend müssen die Studierenden an der Kodikologie Gefallen gefunden haben. Denn trotz der hohen Anforderungen haben sich sechs Teilnehmer an der Übung dafür entschieden, einen Schein zu machen und eine schriftliche Hausarbeit anzufertigen. Sie kamen dann am Freitag, den 19. Juli mit Prof. Wagendorfer ein weiteres Mal in die Bibliothek, um das Erlernte zu vertiefen und die Handschrift kennenzulernen, die ihnen jeweils zugeteilt wurde und von der sie eine kodikologische und inhaltliche Beschreibung anzufertigen hatten. 

Wir waren gerne Gastgeber für die zukünftigen Handschriftenforscherinnen und -forscher! 

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06. März 2025

Rettung unserer Bücher II

Wie man Bücher wieder richtig auspackt

Wäre das Leben ein Film, hätte am Ende des letzten Blogs dramatische Musik in Moll einsetzen müssen. Dazu eine gefilmte Totale von unseren erschrockenen Gesichtern. Aber dann der Wechsel der Stimmung in Dur: Auftritt der Superheldin oder des Superhelden mit dem Namen „Book-Saver“. Und mit ungeahnten Superkräften wird praktisch auf einen Schlag wieder alles gut!

Nun ist das Leben aber kein Film und wir standen stumm vor einer Wand mit mehr oder weniger schwer geschädigten Büchern, die wir selber in weißes Seidenpapier verpackt hatten. Was tun? 
Heute erfahrt Ihr, was bei Schimmelbefall zu tun ist, wenn gerade keine Superhelden zur Verfügung stehen. Wir haben unterschieden in Sofortmaßnahmen und die Planung einer nachhaltigen Rettung. Das ist vielleicht nicht so spektakulär wie im Film, findet dann aber tatsächlich statt!

Sofortmaßnahmen

Als erste Maßnahme nach dem Verpacken mussten wir unsere Inkunabeln für die Benutzung und überhaupt auch den Zutritt zum Inkunabelraum sperren. Die Bücher sind ja verpackt und so ohnehin nicht benutzbar, es darf außerdem niemand durch umherfliegende Schimmelsporen gesundheitlich gefährdet werden. Schon bei der Reinigungs- und Verpackungsaktion haben wir außerdem mit einer Schadenskartierung begonnen. Das ist nichts anderes als eine tabellarische Auflistung der Bände mit Verzeichnis der festgestellten Schäden. Unterschieden werden dabei exogene und endogene Schäden. Endogene Schäden hatten wir kaum zu verzeichnen. Das sind Schäden, die aus dem verwendeten Material selbst entstehen, beispielsweise, wenn säurehaltiges Papier anfängt zu zerfallen. Oder, wie in unserem Fall, wenn eisenhaltige Tinte, mit der in die Bücher geschrieben wurde, oxidiert und zum gefürchteten Tintenfraß führt. Exogene Schäden wiederum sind jene, die einem Buch von außen zugefügt wurden. Dazu zählen neben mechanischen Schäden Verschmutzung, Wurmfraß, Wasserschäden, Stockflecken und Schimmel. Hier hatten wir leider viel zu schreiben.

Als zweite Maßnahme haben wir die Klimaüberwachung im Inkunabelraum verbessert. Zwar konnten wir anhand der sichtbaren alten Wasserschäden in den Büchern mutmaßen, was da eigentlich schief gelaufen war. Aber wir müssen auch präventiv dafür sorgen, dass durch das Raumklima keine weiteren Schäden auftreten. Das alte analoge Hygrometer, das in einem der Regale lag, hatte seine besten Tage allerdings schon hinter sich. Deshalb haben wir in einen digitalen Datenlogger investiert. Das ist ein Messgerät für Profis, mit dem sich die Entwicklung von Temperatur und Luftfeuchtigkeit in einem Raum über einen längeren Zeitraum überwachen und auf dem Computer auslesen lässt. Das Gute im Schlechten: Nach einer Weile konnten wir ausschließen, dass das Raumklima einen Anteil an den Schäden hatte, aber die Luftfeuchtigkeit ließe sich dennoch optimieren.

In dem Raum stand ja noch ein alter Luftentfeuchter, der aber, wie wir feststellen mussten, nicht richtig funktioniert. Der hat zwar beeindruckend gebrummt, aber nichts entfeuchtet! Also haben wir auch den gegen ein neues Gerät getauscht.


Und wo wir gerade schon mal am Überprüfen waren, haben wir präventiv auch gleich IPM-Fallen aufgestellt. „IP-was?“ Dieses Kürzel steht für Integrated Pest Management und bedeutet letztlich, dass wir durch Pheromonfallen überwachen, ob wir ein Problem mit Schädlingen haben. Ihr erinnert euch bestimmt noch an die vier Feinde des Buches aus dem letzten Beitrag! Solche Fallen sind relativ preiswert im Internet-Fachhandel zu erstehen. Dann weiß man relativ schnell, woran man ist. 


Planung einer nachhaltigen Rettung

Das alles löste uns allerdings nicht die beiden Grundprobleme: Wie bekommen wir es hin, dass unsere Bücher nicht noch weiter kaputtgehen? Wie kann man sie wieder benutzbar machen?

Wir haben uns Hilfe geholt! Durch Vermittlung durch Archiv und Bibliothek des Erzbistums München und Freising bekamen wir schnell Kontakt zu einem auf Altbestand spezialisierten Restaurator. Der hat eine Begehung durchgeführt, bei der wir genau wissen wollten: Was können Sie uns über die Art und die Schwere der Schäden sagen? Wie bekommen wir die Bücher wieder benutzbar? Haben Sie Tipps, wie wir die Lagerung unserer Bücher noch verbessern können? Und nicht zuletzt: Was kostet das alles? Dafür haben wir zwei Angebote bekommen. Bei seinen Lösungsvorschlägen wurde deutlich: Auch hier hängt ganz viel davon ab, was man eigentlich will. Man hat gewissermaßen die Wahl zwischen der Luxuslimousine und dem Mittelklassewagen. Geld kostet es aber in jedem Fall!

Nun gibt es glücklicherweise eine eigene Koordinierungsstelle des Bundes für den Erhalt schriftlichen Kulturgutes. Das ist die so genannte KEK! Wer dazu mehr wissen will, kann alles im Internet finden: https://www.kek-spk.de/  Dort werden verschiedene Förderlinien angeboten, um historische Buchbestände zu erhalten oder zu restaurieren. Wir haben etwas Zeit investiert und sorgfältig geprüft, um zu schauen, was für uns in unserem Fall das Beste sein könnte. Wir haben uns für einen Antrag für die „Förderung von Modellprojekten zur Erhaltung des schriftlichen Kulturguts in Deutschland“ entschieden. Für ein Modellprojekt also! So ein Antrag kann jährlich immer bis Ende Januar gestellt werden. Aktuell wird unserer dort gerade geprüft.

Gleichzeitig haben wir uns zum Ziel gesetzt, den Inkunabelraum im Juni umzuräumen. Denn: Wenn wir Erfolg mit unserem Antrag haben, dann werden die geschädigten Bücher ja für eine Weile aus dem Raum zum Restaurator gebracht. Das eröffnet Möglichkeiten, dort die Regale neu und besser zu stellen, um eine nachhaltig verbesserte Unterbringung zu gewährleisten. Damit das aber wie am Schnürchen laufen kann, laufen aktuell noch andere Vorarbeiten. Zum Beispiel wird gerade überprüft, welche Bücher in dem Raum stehen, die vielleicht gar nicht mehr dort stehen müssen.

Aber natürlich steht und fällt alles damit, dass der Antrag bei der KEK genehmigt wird. Ein echter Cliffhanger! Ein bisschen wie im Film ist es also doch. Wir sind gespannt!

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07. Februar 2025

Rettung unserer Bücher I

Von den vier natürlichen Feinden des Buches

Unser Buch aus dem letzten Blogbeitrag kann stolz auf eine „Lebensgeschichte“ von 520 Jahren verweisen.

Aber stellt Euch mal vor, wie Ihr selber ausseht, wenn Ihr 520 Jahre alt seid! Sicherlich nicht mehr so frisch wie am ersten Tag. Denn Bücher, so wurde schon unser William von Baskerville belehrt, sind „gebrechliche Wesen, sie leiden unter dem Zahn der Zeit, sie fürchten die Nagetiere, die Unbilden der Witterung, die plumpen Hände ungeübter Benutzer.“  (Umberto Eco, Der Name der Rose. München, dtv, S. 29). Da sind sie: die vier natürlichen Feinde des Buches!


All das macht das Thema „Bestandserhaltung“ zu einem zentralen Thema von Bibliotheksarbeit. Wer mag, kann dazu einen sehr abstrakten Wikipedia-Beitrag lesen: https://de.wikipedia.org/wiki/Bestandserhaltung

 

Oder: Ihr lest in diesem Blogbeitrag heute, wie es uns damit ergangen ist, als wir dieses Thema ganz oben auf unsere Tagesordnung gesetzt haben.

 

Unser erstes Jahr in der Bibliothek ab dem Juni 2023 war damit ausgefüllt, einen Überblick auf den Zustand des Gesamtbetriebes zu bekommen. Dabei haben wir uns auch viel externen Rat geholt: Bayerische Staatsbibliothek, Diözesanbibliothek München-Freising, Diözesanbibliothek Köln und Unibibliothek Eichstätt.

Ein ganz wichtiges Thema, das sich schnell in den Vordergrund gedrängt hat: Wie wollen wir die Bestandserhaltung anpacken?

 

Das war schon auch eine Neuerung! Weil bei uns die Bücher in eigens dafür gebauten Räumlichkeiten stehen, dachte man: Die stehen hier gut: Da passiert nichts!

Dennoch bekam das Thema einen festen Platz auf der Tagesordnung unserer wöchentlichen Dienstgespräche. Wir haben dabei unterschieden in kurzfristige und langfristige Maßnahmen. Eine weitere Unterscheidung war die Trennung in Schadensprävention und Umgang mit schon vorliegenden Schäden. Ist ja auch logisch: Es ist besser, Schäden im Vorfeld zu vermeiden, als sie dann im Nachgang reparieren zu müssen.

 


 


 


Faszinierenderweise sind die vier Hauptfeinde des Buches, über die William von Baskerville belehrt wird, brandaktuell. Mehrere konkrete Dinge sind wir sehr schnell angegangen:

 „Der Zahn der Zeit!“ Das hat häufig mit Sonneneinstrahlung zu tun. Grelles Licht ist Gift für altes Papier. Also haben wir die Fenster des Raums, in dem unsere Inkunabeln stehen, so verdunkelt, dass der wertvolle Altbestand vor UV-Licht geschützt ist.

„Die plumpen Hände ungeübter Benutzer!“ Die kultivieren wir jetzt durch professionelle Hilfsmittel. Für eine fachgerechte Benutzung alter Bücher besitzen wir jetzt Schaumstoffkeile und Bleischnüre.

„Die Nagetiere!“ Dafür haben wir uns eine Tiefkühltruhe für alte Bücher angeschafft. Dazu später mehr!

Und schließlich noch: „Die Unbilden der Witterung“. Ein sehr heimtückisches Thema.

Zum Umgang damit haben wir eine Großreinigungswoche für Bücher und Bibliothek terminiert. Besonders anschauen wollten wir uns dabei die sehr alten Bücher, zu denen unser Sammelband aus Marienweiher gehört.

Dafür haben wir Hilfe bekommen: Tatsächlich reinigt man alte Bücher auch mit Spezialwerkzeug. Dafür gibt es eigene Staubsauger, Bürsten, Schwämmchen und, sofern nötig, eigenes Verpackungspapier. Außerdem sollte man sich selber durch Spezialkleidung schützen. Hier hat uns die Diözesanbibliothek München-Freising einen Spezialstaubsauger zur Verfügung gestellt – vielen Dank! Alles andere bestellten wir im spezialisierten Online-Handel. 


Reinigen ist deshalb so wichtig, weil vor allem Schimmel besonders gut in verschmutzten Büchern gedeiht. Außerdem verhindert man zusätzlich das Aufkommen von Schädlingen. Das ist übrigens auch der Trick mit der Kühltruhe! Jede Bibliothek, die mit alten Büchern umgeht, hat so eine Tiefkühlgelegenheit. Denn: Ab minus 20 Grad gefriert Eiweiß. Das hält kein Bücherwurm aus! Auch bei akuten Wasserschäden hat Gefriertrocknung schon so manches Buch gerettet. 

 

Sollte ein Buch aber von Schimmel befallen sein, wird es in spezielles Seidenpapier eingeschlagen und so quasi verpackt. Das verhindert nicht nur eine Ausbreitung des Schadens, sondern verhindert eine Kontamination benachbarter Bestände und der Atemluft mit Schimmelsporen. 



Dann kam also die Reinigungswoche! Was sich im Vorfeld schon abgezeichnet hat, wurde leider zur niederschmetternden Gewissheit:

Unsere Inkunabeln müssen mindesten einmal massiv die „Unbilden der Witterung“, das heißt ganz konkret einen großen Wasserschaden miterlebt haben. Möglicherweise war das teilweise schon während des Zweiten Weltkriegs, als ein Teil des Münchener Bestands in Bad Tölz ausgelagert war. Wasserschäden in Verbindung mit Schmutz: idealer Nährboden für Schimmel. Und Schimmel lebt und wächst! Er ist eine echte biologische Zeitbombe. Für das Buch selber, aber eben auch für die Nutzer. Denn Schimmel ist immer potenziell gesundheitsgefährdend, weshalb betroffene Bücher als erste Maßnahme komplett für die Benutzung gesperrt werden müssen.

Das Gemeine: Bei uns war das offenbar schon lange her. So ist in aller Stille über die Jahre echter und wirklich bedrohlicher Schaden an unseren Büchern entstanden! 

 

Es hatte wirklich etwas Tragisches: Je länger wir gereinigt haben, umso länger sind unsere Gesichter geworden. Ein Buch nach dem anderen musste in Seidenpapier eingeschlagen werden – darunter auch unser Band aus Marienweiher. Jetzt sieht der Inkunabelraum aus wie ein Feldlazarett für Bücher: Ganze Wandflächen sind weiß von Seidenpapier!

 

Wird es gelingen, den Band aus Marienweiher und seine Schicksalsgenossen zu retten? 


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17. Januar 2025

 Ein Buch erzählt seine Geschichte 

  „Warum interessiert ihr Euch eigentlich für alte Bücher?“ Oder: „Weswegen betreibt ihr so viel Aufwand für diese alten Schinken? Das liest doch eh keiner mehr!” So könnte man uns fragen – und so werden wir auch gefragt. In diesem Blog-Beitrag erzählen wir euch eine Geschichte, um darauf zu antworten. Und natürlich: Am besten geht das mit der Geschichte eines unserer alten Bücher. Es steht hier in unserem so genannten Inkunabelraum und trägt die Signatur 8° Inc. 36. Im ersten Augenblick macht es keinen besonderen Eindruck. Allerdings lässt sich am stark verschmutzten Ledereinband erkennen, dass es in den letzten 520 Jahren durch viele Hände gegangen ist. 

Nicht selten reagieren Menschen, die ein altes Buch gezeigt bekommen, sehr vorhersehbar. Zuerst kommt der begeisterte Ausruf: „Toll! Ist das sehr alt?“ Es wird dann vielleicht noch ein wenig darin herumgeblättert. Vielleicht sind ja sogar noch Bilder ´drin? Und das ist es auch schon. Dabei kann so ein Buch deutlich mehr erzählen – sogar ohne, dass man es lesen muss!! 
Denn es hat mit der Zeit tatsächlich ein Eigenleben entwickelt, eine eigene Biographie.

Unser Buch ist zum Beispiel ein Sammelband und enthält drei Werke: 

  •  eine sog. Postinkunabel aus dem Jahr 1502, einen Albertus Magnus zugeschriebenen mariologischen Traktat „Summa de laudibus Mariae“, gedruckt 1502 in Köln (für Profis: VD16 A 1356 ]

 

  • eine Inkunabel, den Bernhard von Clairvaux zugeschriebenen „Liber Floretus“, ein moralisch-theologisches Lehrgedicht, gedruckt 1494 in Köln (international verzeichnet unter ISTC ib00394000. )


  • eine sehr verbreitete Messauslegung aus der Feder von Wilhelm von Gouda, einem Franziskaner des 15. Jhs., gedruckt 1500 in Köln. „Sehr verbreitet“ heißt in diesem Zusammenhang: Es gibt alleine 26 Druckausgaben vor 1500, von denen diese Ausgabe weltweit noch dreißig Mal nachgewiesen ist: ISTC ig00631000. )


Das heißt im Umkehrschluss: Da hat sich jemand die Mühe gemacht, drei sehr unterschiedliche Drucke unter einen Buchdeckel zu bringen – zu einer Zeit, wo der Buchdruck, die „schwarze Kunst“, noch ein ganz junges Handwerk war.  Das provoziert doch geradezu die Fragen: Wer war das? Wo ist das geschehen? Und nicht zuletzt: warum?

Solche Sammelbände gibt es häufig aus dieser Zeit. Meistens sind darin Werke aus unterschiedlichen Druckereien oft kunterbunt zusammengebunden. Zufällig stammen alle drei Werke in diesem Band aber aus derselben Druckerei, nämlich Heinrich Quentell in Köln. Heinrich Quentell stirbt 1501. Das erste Werk, die „Summa de laudibus Mariae“, wurde aber 1503 gedruckt, als die Söhne Quentells die Werkstatt unter gleichem Namen übernommen hatten.
Der Ort Köln ist aber möglicherweise kein Zufall! Denn, wo hat Albertus Magnus gewirkt und wo ist er begraben? Köln! Und auch Wilhelm von Gouda hatte einen Bezug zu Köln: Als seine Messauslegung gedruckt wurde, lebte er nämlich noch und war Franziskaner der Kölnischen Franziskanerprovinz.
Wie und wo haben aber diese drei einzelnen Drucke zusammengefunden? Zahlreiche Buchbinderwerkstätten des Spätmittelalters haben ihre Ledereinbände mit eigenen Blindstempeln verziert, anhand derer sich heute mit etwas Recherchearbeit die Werkstätten identifizieren lassen. Dieser Einband führt uns nach Heidelberg (Werkstatt „Blumenstock Raute I“ Heidelberg [EBDB w000110]). Dort wurden also die drei Werke zusammengebunden und der Einband mit den beiden noch erhaltenen Schließen versehen. Die frühen Drucke hatten also schon ihre erste Reise gemacht: Von Köln nach Heidelberg (rund 240 km).

Warum ausgerechnet dorthin? Heidelberg, seit 1386 Studentenstadt! Dort gab es natürlich einen Markt für – in diesem Fall theologische – Fachliteratur. Tatsächlich wurde unser Buch von einem Theologie-Studenten gekauft. Das wissen wir! Denn er nennt sich in einem Eintrag auf dem hinteren Spiegel (so nennt man den inneren Teil der beiden Buchdeckel) selbst: 1503°. Emptus per me fratrem Vrbanum Frais Heydelberga. Ein Frater Urbanus Frais hat also dieses Buch in der jetzt uns vorliegenden Form 1503 in Heidelberg gekauft. Und tatsächlich: In den Heidelberger Matrikeln aus diesem Jahr ist er entsprechend verzeichnet mit dem Zusatz: de Lanckheym Bambergensis diocesis. Er stammte also aus (Kloster) Langheim, heute Stadtteil von Lichtenfels in Oberfranken. 

Wir wissen nicht, wie es euch geht, ob ihr euch Notizen in eure Büchern macht oder dies eher als Unsitte betrachtet. Für die heutige Forschung sind Benutzerspuren, also Anmerkungen, Notizen und Kommentare mitunter von hohem Aussagewert. Urbanus Frais hat zwar den Inhalt seines Buches nur spärlich kommentiert. Aber: Auf einer der hinteren Seiten hat er uns neben Buchstaben des Alphabets, die wohl Federproben sind, die Anfangszeilen des Vaterunser auf Deutsch hinterlassen. Außerdem hat er im vorderen Spiegel eine Liste seiner Heidelberger Mitstudenten aus dem Jahr 1503 angefertigt und teilt uns mit, dass seine Determinatio, also die Abschlussprüfung, am Samstag nach Maria Himmelfahrt 1504 (= 17. August 1504) stattfand. 
Spannend wäre natürlich zu wissen: War unser Frater Urbanus Frais Zisterzienser aus der heimischen Abtei Langheim? Dafür würde nicht nur der Herkunftsvermerk „de Langkheim“ und der Schreibdialekt des deutschen Vaterunsers sprechen, der eher ins südlichere Deutschland verweist. Auch der Umstand, dass das Buch nach erneuter Wanderschaft (weitere 260 km) und viele Jahre später plötzlich in Franken auftaucht, könnte ein Beleg dafür sein. 
 
Denn aus einem weiteren Besitzeintrag geht hervor, dass es sich 1671 im Besitz des Pfarrers Johann Jakob Gerhard befand. Im Jahr zuvor hatte er im katholischen Stadtsteinach (Lkr. Kulmbach, Franken] eine völlig desolate Pfarrei übernommen. Im Dreißigjährigen Krieg war die Kirche verwüstet und geplündert worden, die Gemeinde war notleidend. Noch dazu befand sich Stadtsteinach in direkter Nachbarschaft zu den protestantischen Markgrafen von Kulmbach, woraus sich auch noch gegen Ende des 17. Jhs. – vor allem im Zuge der Markgrafenkriege – immer wieder gewaltsame Konflikte ergaben. Johann Jakob Gerhard starb 1697 und ist in der Pfarrkirche in Kronach bestattet. Sein Testament wird heute im Staatsarchiv Bamberg aufbewahrt. Wie spannend wäre es doch, einen Blick hineinzuwerfen, um zu sehen, was mit seinen Büchern geschah 
Unser Buch wechselte nämlich erneut den Ort, blieb aber zunächst in Franken! Es kam zeitnah – möglicherweise nach dem Tod von Jakob Gerhard –  ins direkt benachbarte Franziskanerkloster Marienweiher. Das lag nur rund 10 km Luftlinie von Stadtsteinach entfernt und war erst im Jahr 1646 gegründet worden. Es gehörte allerdings in dieser Zeit organisatorisch zur Straßburger Ordensprovinz und war zunächst nur eine kleine Seelsorgestation. Erst im Jahr 1699 wurde das Kloster zum Konvent erhoben. 
Diese Besitzerwechsel von Frater Urbanus zu Johann Jakob Gerhard ins Franziskanerkloster Marienweiher laden zu ganz vielen Fragen ein: Immerhin! Wir befinden uns im 16. und 17. Jahrhundert! Reformation und katholische Reform, Dreißigjähriger Krieg! 

Doch die Geschichte geht noch weiter: Unser Buch ist offenbar lange in Marienweiher in der Bibliothek stehen geblieben. Und das war nicht selbstverständlich! Denn das Kloster wurde im Jahr 1802 säkularisiert. Das Ordensleben sollte in dieser Zeit komplett abgeschafft werden. Aber wohin mit den bisherigen Ordensleuten? Man gründete so genannte „Aussterbeklöster“. Da steckte man Ordensleute hinein und zahlte ihnen bei strengem Verbot, Novizen aufzunehmen, eine staatliche Pension. Nicht selten beließ man bei dieser Gelegenheit die Bibliotheken im Haus: Die älter werdenden Ordensleute sollten ja schließlich etwas zu lesen haben. Im Freistaat Bayern bringt das bis heute die heikle Frage mit sich, wem denn dann die Bücher eigentlich heute gehören. 
Mit König Ludwig I. von Bayern erlebte das Ordensleben aber rund zwanzig Jahre später im Jahr 1827 einen Neuanfang. Er ließ auch die Franziskaner wieder zu. Das führte dazu, dass das Kloster im oberfränkischen Marienweiher erst jetzt „richtig“ bayerisch, sprich Teil der Bayerischen Franziskanerprovinz wurde. Mit den noch dort verbliebenen alt gewordenen Franziskanern der Straßburger Provinz wurden auch die alten Bücher gewissermaßen „bajuvarisiert“. Und dazu zählte auch unser Exemplar hier. Ihm war dann in Marienweiher noch über 150 Jahre Standortgeschichte vergönnt. Wer es in dieser Zeit in die Hand genommen hat? Wissen wir nicht! Es wird aber möglicherweise zu Beginn nur noch eines von wenigen Büchern im Haus gewesen sein. Doch wird ihm nicht entgangen sein, dass es ab der der Mitte des 19. Jahrhunderts auf einmal Konkurrenz von ganz vielen anderen Büchern in benachbarten Regalen bekam. Was war passiert? Die Massenproduktion von Druckerzeugnissen hatte eingesetzt: die Einführung der maschinellen Druckerpressen und ab 1844 der Holzschliff in der Papierproduktion. 
Jetzt war es nur noch ein altes Buch unter vielen neuen Büchern mit viel aktuelleren Themen. Wer interessierte sich jetzt noch für die Theologie des 14. Jahrhunderts oder Wilhelm von Gouda? Unser Buch ist damals möglicherweise noch ob seines ehrwürdigen Alters bewundert worden, aber: Ob es überhaupt noch gelesen wurde? Die Einführung des Taschenbuches in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat das sicherlich nochmals verstärkt. Irgendwann war unser Buch auf jeden Fall einfach nur noch im Weg! 
Möglicherweise war es dann im Jahr 1983, als es seine bisher letzte Reise nach München antrat (einmal mehr 260 km)? Denn in diesem Jahr hat die Bayerische Franziskanerprovinz das Kloster in Marienweiher der Schlesischen Ordensprovinz überlassen. Bei dieser Gelegenheit wurden die alten Bücher in die Provinzbibliothek nach München gebracht. Auch unser Buch. 
Dieses Buch oder seine Einzelteile haben also in 520 Jahren bis heute eine Reise von 770 km  hinter sich gebracht: von Köln nach Heidelberg, von dort vielleicht nach (Kloster-)Langheim, schließlich nach Stadtsteinach, weiter nach Marienweiher und von dort zuletzt nach München. Diese Reise bringt ganz viele Fragen mit sich. Wir haben nur einige angerissen. Das Verrückte: Mit so einer Geschichte kann so ein altes Buch auch auf Fragen antworten, die uns heute noch gar nicht beschäftigen. Die Fragen sind schier endlos und betreffen nicht alleine die eigene Geschichte der Franziskanerprovinz. 
Ohne, dass wir uns überhaupt mit dem Inhalt des Buches beschäftigt haben, hat es ganz viel zu sagen! Hier schlummert also Potenzial. 
Vielleicht beginnt ihr zu ahnen, warum wir von der Bibliothek sagen: Wir wollen dieses Potenzial unseres Altbestandes nach außen viel bekannter machen und zum Leben erwecken – beispielsweise, indem wir auf die universitäre Forschung und Lehre zugehen und die Bestände hier unkompliziert zugänglich machen. 

 

Aber leider: Die Gegenwart unseres Buches bietet noch Stoff für Drama. Denn seine Geschichte geht nämlich weiter!

 

Neugierig geworden? Verfolgt unseren Blog und habt Teil an unserer Geschichte! 

 


4. Dezember 2024

Natürlich, eine alte Bibliothek! 

 

Anno Domini 1327. Ein wissbegieriger Franziskaner und sein Adlatus, eine düstere Benediktinerabtei irgendwo an den Hängen des Apennins und deren größter Schatz, die ebenso geheimnisvolle wie hermetisch abgeschlossene monumentale Bibliothek: Das kommt Euch sicherlich bekannt vor. Kein großes Rätsel: Es geht um die Geschichte von „Der Name der Rose”, dem faszinierenden Roman von Umberto Eco und seiner populären Verfilmung mit Sean Connery in der Rolle des William von Baskerville. Nur: Für uns ist diese Geschichte keine Vergangenheit.  Sie findet, wenngleich mit veränderten Vorzeichen, auch heute statt! 

 

Okay, zugegeben: Bei uns passieren keine mysteriösen Mordfälle. 

 

Aber wie im Buch und im Film geht es auch bei uns um Franziskaner, vergessene und verborgene Bücher und deren Wiederentdeckung. 

 

Die Öffnung einer „originalen” Franziskanerbibliothek ist sogar Programm. Wir wollen Öffentlichkeit für ihre Schätze. Mit dem zweiten Buch der Poetik des Aristoteles über die Komödie können wir zwar nicht dienen, sorry. Aber mit dem „echten“ William Ockham und Ubertin von Casale oder zumindest deren gedruckten Werken. Und alt ist unsere Bibliothek auch. Eines ihrer ältesten Werke stammt noch aus dem „alten“ Münchener Franziskanerkloster, das im Jahr 1284 am Max-Joseph-Platz errichtet und 1802 aufgelöst wurde. Das war übrigens das Kloster, in dem Ockham tatsächlich eine Zeit lang gelebt hat und in dessen Klosterkirche er begraben wurde! 

 

Besagtes Buch und noch viele andere Werke fanden zusammen mit den Franziskanern nur wenige Jahre später eine neue Heimat in St. Anna im Lehel. Es geht also tatsächlich um das geistige Erbe und die Tradition der Franziskaner seit den Tagen des „Namen der Rose”. Nur: Bei uns ist die Geschichte eben nicht erfunden, sondern hat sich tatsächlich ereignet und geht sogar noch weiter! 

 

Wir laden Euch ein, es Wilhelm von Baskerville und Adson von Melk gleichzutun und die Franziskanerbibliothek in München als Heimat unserer Bücher jeden Monat ein Stück besser kennenzulernen. 

 

Und jetzt eine entscheidende Information: Wer sind “wir” überhaupt?

„Wir“ sind der Provinzbibliothekar der deutschen Franziskaner und eine Historikerin beziehungsweise Kodikologin. Seit einem Jahr stehen wir in der Verantwortung für einen ungehobenen Bücherschatz von 20.000 Bänden vom 12. bis ins 19. Jahrhundert. Unsere Ausgangslage ist dabei nicht weniger dramatisch als in „Der Name der Rose”: Denn viele der alten Bücher müssen aktuell sogar noch „gerettet” werden, damit sie wieder zugänglich werden. Der Zahn der Zeit hat gnadenlos genagt! 

Hinzu kommt, dass wir zugeben müssen: So ganz wissen wir noch nicht einmal, welche Schätze bei uns noch gehoben werden können. 

 

Neugierig geworden? Verfolgt unseren Blog und habt Teil an unserer Geschichte!